"Wir haben eine Familienpolitik mit vielen Lücken"

Warum Kinder laut der Vermächtnisstudie 2023 immer unwichtiger werden

Fragen: Anna Zacharias
Oktober 2023

Der Wunsch nach eigenen Kindern geht zurück. Das ist ein Ergebnis der Vermächtnisstudie 2023. Corona, Klimakrise, Inflation oder einfach das Arbeitsleben – was steckt dahinter? 
Wiebke Blanquett:
Wir sehen, dass die Geburtenrate 2022 um 8 Prozent auf 1,46 Kinder abgenommen hat und den niedrigsten Wert seit 10 Jahren darstellt. Das ist eine Auswirkung der Corona-Pandemie, in der einige Frauen ihren Kinderwunsch zurückgestellt haben, bis sie den vollen Impfschutz hatten. Es bleibt abzuwarten, ob und wie sich die globale Sicherheits- und Wirtschaftslage in der Statistik niederschlägt und ob wir hier eine Trendwende sehen. Die Gründe für oder gegen Kinder sind vielfältig und sowohl individuell als auch strukturell bedingt. Zum einen gibt es Frauen, die sich bewusst gegen Kinder entscheiden oder keine bekommen können. Zum anderen sind es die Rahmenbedingungen, die einen vorhandenen Kinderwunsch auf später verschieben oder sogar unerfüllt lassen. 

Was wissen wir denn darüber, was passiert, wenn man sich für ein Kind entscheidet?
Was wir wissen ist, dass es starke Veränderungen im privaten und beruflichen Leben gibt, insbesondere von Müttern. Das sind einmal die finanziellen Einbußen. Frauen verdienen generell schlechter als Männer, aber nach der Geburt eines Kindes wird der Gender Pay Gap noch mal sehr viel größer. Man spricht auch von der Motherhood Lifetime Penalty. Insgesamt verdienen Mütter über das Erwerbsleben gesehen bis zu zwei Drittel weniger als Frauen ohne Kinder. Das führt auch zu einer niedrigeren Rente. Die Lücke zwischen Männern und Frauen wächst in heterosexuellen Beziehungen noch einmal stark an, sobald Kinder da sind. Parallel dazu sinkt die Zeit, die Frauen bezahlt erwerbstätig sind. Das liegt an der Aufteilung der Care-Arbeit als Paar, aber auch daran, dass externe Betreuungsangebote für Kinder nicht ausreichend vorhanden sind. Es ist zwar einiges passiert in den vergangenen Jahren, wie die Einführung des Anspruchs auf einen Kitaplatz ab dem ersten Lebensjahr und der damit einhergehende Ausbau von Betreuungsplätzen. Aber es reicht noch nicht.

„Männer arbeiten nach der Geburt eines Kindes mehr. Für sie ist ein Kind ein Karriere-Boost."


Wiebke Blanquett, stellvertretende Leiterin der Politikberatung und Gleichstellungs-Expertin der Arbeitnehmerkammer

Warum könnte sich das gerade jetzt in der Studie niederschlagen – diese Erkenntnisse sind ja nicht brandneu.
Die Erkenntnisse sind nicht neu, aber in der Corona-Krise haben sich die Leerstellen im Umgang damit gezeigt. Wir haben gesehen, dass diesem Politikfeld keine Priorität eingeräumt wird. Zum Beispiel gab es während der Pandemie teilweise gar keine externe Betreuung. Auf die Betreuungslücke gab es keine strukturelle Antwort, sondern nur die Möglichkeit individuell eine Lösung zu finden – auf dem Rücken der Mütter. Ein trauriges Ergebnis ist, dass während der Corona-Krise das Vertrauen von Müttern in die Politik geschwunden ist, Krisen zu meistern. Heute sehen wir: Es gibt immer noch nicht genug Kita-Plätze, viel zu wenig Fachkräfte und vor allem auch in Bremen häufig zu kurze Betreuungszeiten. Die Überforderung und hohe Erwartungen an Mütter sind in den letzten Jahren sichtbarer geworden. Mütter haben häufig das Gefühl, es zwischen Job und Familie niemandem recht machen zu können.

Da kommt Mental Load ins Spiel.
Genau, die unsichtbare kognitive Arbeit, die der Begriff beschreibt, ist sehr ungleich verteilt: Die Vermächtnisstudie hat festgestellt: Frauen in heterosexuellen Beziehungen denken öfter an die Dinge des Alltags, während sich Männer eher für einmalig vorkommende Dinge zuständig fühlen, wie Reparaturen oder Finanzen. Die Mental-Load-Diskussion ist in den vergangenen Jahren stärker in die Öffentlichkeit gerückt, so dass vielen Frauen überhaupt erst bewusst geworden ist, dass hier ein Ungleichgewicht besteht. Was dabei noch mal interessant ist: Die Studie stellt fest, dass sich die Verteilung des Mental Load nicht unterscheidet, wenn beide in einer heterosexuellen Beziehung in Vollzeit arbeiten. Auch da fühlt sich die Frau für die Planung und Organisation von alltäglichen Dingen zuständig.

Väter wollen heute mehr Arbeit in Kinder und Familie investieren als früher. Die Studie zeigt: Finanzielle Gründe und Druck vom Arbeitgeber halten sie davon ab. Gibt es einen Weg aus dieser Misere?
Die Studie hat festgestellt, dass es nicht nur die finanziellen Gründe sind, sondern auch der fehlende Mut von Vätern. Und: Väter kritisieren auch ihr eigenes Verhalten und sagen, dass sie zu wenig Zeit mit der Familie verbringen. An dieser Stelle müssen die Männer tatsächlich mutiger werden und für mehr eigene Familienzeit einstehen. Das heißt konkret Teilzeitmöglichkeiten mit den Arbeitgebenden aushandeln und mehr Care-Arbeit übernehmen. Das wird einfacher, wenn sie schon Vorbilder im Betrieb haben, die Vereinbarkeit vorleben.

Die Vermächtnisstudie AKB003_IconInfo

Die Vermächtnisstudie ist ein Projekt von infas, dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Der "Zeit". In der jüngsten Erhebung mit dem Thema anhaltende Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und ihren Folgen wurden 4.211 Menschen im Alter von 23 bis 65 Jahren befragt. 

Einfach Teilzeit arbeiten klingt so leicht, aber was ist, wenn der Vater den Großteil des Familieneinkommens erwirtschaften muss und es finanziell viel sinnvoller ist, dass die Mutter weniger arbeitet?
Bei solchen Entscheidungen spielt natürlich auch das Einkommen der Familie eine Rolle. In vielen Fällen ist der Verzicht auf das Einkommen der Mutter jedoch zu kurz gedacht. Wenn man davon ausgeht, dass Kinder immer einen finanziellen Einschnitt bedeuten, sollte man sich gemeinsam hinsetzen und überlegen, wie man das als Familie fair auffangen kann. Und ob es nicht vielleicht sogar sinnvoll wäre, wenn die Mutter nicht so lange aus dem Job rausgeht, damit ihre berufliche Entwicklung nicht so sehr leidet. Damit auch sie perspektivisch mehr verdienen kann und ihre eigenständige finanzielle Unabhängigkeit auf guten Füßen steht. Wenn Väter länger Elternzeit nehmen, dann kehren Mütter früher in das Berufsleben zurück. Als Paar sollte man sich fragen: Was können wir tun, um langfristig beide und als Familie finanziell gut aufgestellt zu sein?

Männer erwarten durch eine Elternzeit mehr negative Auswirkungen auf ihre berufliche Entwicklung als Frauen. Ist die Angst berechtigt? 
Wenn man in Elternzeit oder Teilzeit geht, kann es sein, dass man im Beruf auf eine unwichtigere Position gesetzt wird. Das geht Frauen genauso. Diese Diskriminierung von Eltern ist weit verbreitet und bedarf auch politischer Antworten. Wenn sich Männer und Frauen die Care-Arbeit gerecht aufteilen würden, könnten sich Arbeitgeber gar nicht leisten, alle auf unwichtige Positionen zu setzen. Momentan ist es aber so, dass Männer nach der Geburt eines Kindes mehr arbeiten und verdienen, während Frauen beruflich zurückstecken. Für Männer ist ein Kind zurzeit ein Karriere-Boost.

Was kann denn dafür getan werden, die Entscheidung für Kinder zu stärken?
Es gibt nicht den einen Aspekt, der alles verändern wird. Es braucht sowohl im Privaten Aushandlungsprozesse auf Augenhöhe als auch politische Bemühungen, Strukturen zu verändern. Natürlich müssen sich auch die Arbeitgebenden verändern und echte Vereinbarkeit ermöglichen, im Übrigen natürlich auch für Ein-Eltern-Familien. Die Entscheidung, Kinder zu bekommen, sollte weder die Armutsgefahr für Mütter erhöhen noch einen einseitigen Karriere-Boost nur für Väter nach sich ziehen.

Foto: Joacquin Corbalán