Manuela Schwenke steht in der Bremer Obernstraße und schaut frontal in die Kamera

Vollzeit, ­Teilzeit, Lebenszeit

Hälfte der Bremer Beschäftigten unzufrieden mit Arbeitszeiten

Rund die Hälfte der Beschäftigten im Land Bremen wünscht sich andere Arbeitszeiten

Text: Anna Zacharias
Fotos: Jonas Ginter
1. November 2023

Mehr Zeit für die Kinder. Mehr Zeit für mich. Mehr Entlastung für meine Gesundheit – die Gründe für den Wunsch nach Teilzeit sind vielfältig. Wie eine aktuelle repräsentative Befragung der Arbeitnehmerkammer Bremen zeigt, ist mehr als die Hälfte der Beschäftigten im Land ­Bremen mit ihren Arbeitszeiten unzufrieden. Die meisten von ihnen ­würden gern ­Stunden reduzieren, stoßen dabei in ­vielen Fällen jedoch auf Widerstände. Auf der anderen Seite würden rund zwölf Prozent eigentlich gern ihre ­Stunden ­erhöhen.

Der unerfüllte Wunsch nach anderen Arbeitszeiten ist dabei für viele sogar ein Kündigungsgrund. Etwa jeder und jede Dritte hat schon konkret darüber nachgedacht, sich deswegen eine andere Stelle zu suchen. Ein Alarm­signal in Zeiten des demografischen Wandels: „Wir hören überall, dass Unternehmen über Fachkräftemangel klagen. Dabei wäre es längst an der Zeit, Arbeitsbedingungen zu ver­bessern und den Wünschen ihrer Beschäftigten entgegenzukommen, um Kräfte zu ge­­winnen und dann zu halten“, sagt Regine Geraedts, Arbeitsmarkt-­Expertin der Arbeitnehmerkammer Bremen.

Zeit für die Familie

Viertel nach drei am Montagnachmittag. Ingo Feuker steht wie fast jeden Tag um diese Zeit vor der Kita, um zusammen mit seiner Frau seine Tochter abzuholen. „Ich habe eigentlich immer voll gearbeitet, teilweise auch mehr als 40 Stunden, was in der Medien­produktion nicht ungewöhnlich ist“, sagt der 42-Jährige. Er ist Medien­gestalter in einem kleinen Tonstudio, das für die Großen produziert, unter anderem für Radio Bremen. Als er ­seinem Chef nach der Elternzeit das Vorhaben eröffnete, auf 30 Stunden reduzieren zu wollen, musste ­dieser erst mal schlucken – war dann aber einverstanden. „Wir sind nur vier Mit­arbeiter und ich war der erste, der überhaupt ein Kind bekommen hat, muss man dazu sagen.“

Dieses Glück haben nicht alle Väter, wie die Ergebnisse der Arbeitnehmerkammer-Befragung zeigen. Viele Eltern wünschen sich mehr Verein­barkeit von Beruf und ­Familie, ­Männer haben es aber immer noch schwerer mit ihrem Wunsch nach Teilzeit. Insgesamt würden 45 Prozent von ihnen gern weniger arbeiten und 86 Prozent davon geben als Grund an, mehr Zeit mit der Familie haben zu wollen. Fast die Hälfte sagt, dass ihr Arbeitgeber nicht zustimmen würde.

„Neben den familiären sind es auch vor allem gesundheit­liche Gründe, aus denen Menschen in Teilzeit arbeiten.“
Regine Geraedts, Arbeitsmarkt-Expertin der Arbeitnehmerkammer

„Ich glaube schon, dass es ­Männern schwerer fällt, zum Chef zu gehen – und sie sich auch fragen, was wohl die Kollegen denken. Aber nur für das Wochenende leben und meine Tochter abends eine Stunde vor dem Schlafengehen sehen? Das wollte ich auf keinen Fall“, erklärt Ingo Feuker. Später mal könne er sich durchaus vorstellen, wieder in Vollzeit zu gehen, aber zurzeit noch nicht. „Meine Frau arbeitet auch 30 Stunden, und solange das finanziell passt, sind wir so sehr zufrieden.“

Doch nicht für alle Beschäftigten kommt ein solches Teilzeitmodell infrage. Zwei Drittel, bei den Alleinerziehenden sogar 94 Prozent der Befragten, geben an, dass der monat­liche Verdienst mit weniger Stunden zu gering wäre. Ebenfalls knapp zwei Drittel fürchten um die Höhe ihrer Rente. Besonders häufig sagen das Frauen. „Teilzeit muss man sich ­leisten ­können. Die meisten können es aus öko­nomischen Gründen nicht, auch wenn der Druck hoch ist“, sagt Regine Geraedts.

Ingo Feuker, Vater

„Ich glaube schon, dass es Männern schwerer fällt, zum Chef zu gehen – und sie sich auch fragen, was wohl die Kollegen denken.“

Manuela Schwenke, Gesamtschwerbehindertenvertreterin

„Wenn Kolleginnen aus ­gesundheitlichen Gründen reduzieren wollen, tut sich der Arbeitgeber oft schwer.“

Sven Wilksen, Softwareentwickler

„Mein Arbeitgeber war offen für meinen Teilzeitwunsch.“

Wenn die Gesundheit nicht ­mitspielt

„Neben den familiären sind es vor allem gesundheitliche Gründe, aus denen Menschen in Teilzeit ­ar­­beiten“, erklärt Geraedts. Bei mehr als einem Drittel der Teilzeitbeschäftigten waren sie ein Motiv für die verringerte Arbeitszeit.

Manuela Schwenke arbeitet seit 34 ­Jahren bei einer internationalen Modekette in Bremen, bei der sie auch Gesamtschwerbehindertenver­tretung ist. Aufgrund einer chronischen Erkrankung kann sie nicht mehr lange auf ­harten Böden stehen, die Arbeit im Verkauf wird dadurch unerträglich. „Wenn ­Kolleginnen aus gesundheit­lichen Gründen reduzieren wollen, tut sich der Arbeitgeber oft schwer, den Wünschen nachzukommen“, berichtet sie. Es komme auch durchaus öfter vor, dass Kolleginnen deswegen kündigen. Ebenso gehe es aber auch denen, die gern auf Vollzeit aufstocken würden. Als sie damals angefangen habe, seien 40 Stunden für Kinderlose noch die Regel gewesen – heute wolle man im Einzelhandel vor allem Flexibilität vonseiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. „Selbst ist man auf Arbeitgeberseite allerdings weniger flexibel, auch wenn es um klare Strukturen im Tagesablauf geht, die viele chronisch Kranke einfach brauchen“, kritisiert Schwenke.

Die „Koordinaten der Arbeit“

Die Beschäftigtenbefragung der Arbeitnehmerkammer erscheint alle zwei Jahre unter dem Titel „Koordinaten der Arbeit“. Sie wurde 2023 vom Institut für angewandte Sozialwissenschaft (infas) im Auftrag der Arbeitnehmerkammer in Form von 2940 telefonischen Interviews durchgeführt. Rund 71 Prozent der Befragten arbeiten in Vollzeit, rund 29 Prozent in Teilzeit, was in etwa den tatsächlichen Strukturen auf dem Bremer Arbeitsmarkt entspricht. Die erste Erhebung dieser Art fand 2017 statt. Fokus waren in diesem Jahr Art und Umfang der Arbeitszeiten.

Frühzeitigen Ausstieg verhindern

Rund die Hälfte der Beschäftigten berichtet in der Arbeitnehmer­kammer-Befragung von gestiegenem Stress und Arbeitsdruck. Insgesamt ein Viertel fühlt sich dadurch stark oder sehr stark belastet. Vor allem in der Pflege und im Gastgewerbe wird von körperlichen und emotionalen Belastungen berichtet. „Arbeitgeber müssen mehr tun, um Belastungen abzubauen – auch, um die Babyboomer nicht frühzeitig zu verlieren, die heute einen wesentlichen Anteil an der Produktivität der Wirtschaft tragen“, sagt Geraedts.

Homeoffice spart Zeit

Sven Wilksen arbeitet mitten in ­Bremen – und sitzt bei sich zu Hause in Varel. Sein Arbeitgeber Air Music ­Techno­logy ermöglicht es ihm, permanent im Homeoffice zu sein und sich dadurch „die zwei Stunden Stau“ am Tag zu ersparen. „Das hat sich durch Corona etabliert“, sagt Wilksen. Wie die Beschäftigtenbefragung zeigt, ist Homeoffice wirklich gekommen, um zu bleiben. Bei der Befragung 2021 hatte sich der Anteil der Beschäftigten auf 41 Prozent gegenüber 19 Prozent im Jahr 2019 mehr als verdoppelt. ­Dieser Anteil hat sich im Land Bremen stabilisiert: Bei der aktuellen Befragung gaben 42 Prozent an, zumindest gelegent­lich im Homeoffice zu arbeiten.

Und auch beim Thema Arbeitszeit hat der 36-jährige Wilksen Glück: Anders als viele andere ist sein Arbeitgeber sehr offen für seinen Teilzeitwunsch: „Ich durfte sogar ganz un­bürokratisch zunächst ausprobieren, wie die 32 Stunden für mich passen“, sagt der Software-Entwickler. Er ist Betriebsratsvorsitzender des Unter­nehmens mit insgesamt 30 Angestellten, hauptsächlich Männer. In anderen Jobs sei er auf wesentlich mehr Widerstand gestoßen, viele seien deutlich unflexibler, berichtet er. Insgesamt hätten fünf bis sechs Mitarbeiter reduziert. 40 Stunden seien ihm selbst schon immer zu viel ge­­wesen: „Man ist so einfach flexibler, kann auch mal Überstunden abbauen und am Freitag früher gehen“, findet er. In ­seinem Team gebe es dank agilen Arbeitens auch keine Probleme, ­Projekte würden gut vorausgeplant.

Viele Arbeitgeber haben bereits verstanden, dass Offenheit für die Arbeitszeitwünsche ihrer Beschäftigten an Wichtigkeit gewinnt. 73 Prozent der Beschäftigten geben an, dass ihr Ar­­beit­­geber grundsätzlich offen für die ­Wünsche der Mitarbeiterinnen und ­Mitarbeiter sei.

Andere wiederum stehen ihren Angestellten im Weg. Mehr als jede und jeder Dritte fühlt sich vom Arbeit­geber nicht gehört. Weitere Hinderungsgründe für weniger Stunden sind ein zu geringes Gehalt und die Altersvorsorge. Fast die Hälfte fürchtet zudem, dass die Aufgabenfülle bliebe und die Arbeit nicht zu schaffen wäre, der Belastungsdruck also noch steigen würde.

Zum Zoomen Mausrad oder Finger verwenden

Wer gern mehr arbeiten möchte

Spaß an der Arbeit, mehr Geld: Einige würden auch gern aufstocken. Dieser Wunsch kommt – nicht überraschend – hauptsächlich von Teilzeitkräften: Fast jede und jeder vierte von ihnen würde gern mehr arbeiten. Für die ­meisten sind dabei finanzielle Gründe ausschlaggebend, wie ein höheres Ein­kommen oder die Aussicht auf eine höhere Rente.

Überproportional häufig ­wollen Beschäftigten im Gastgewerbe auf­stocken, ohne dass dies berücksichtigt wird. Das ist deshalb bemerkenswert, weil diese Branche besonders stark über Fachkräftemangel klagt. Oft, so erklärt Regine Geraedts die Zahlen, gebe es aber in der Branche gar kein Interesse an langer Teilzeit oder Vollzeit: „Die meisten Gastronomiebetriebe wollen vor allem möglichst viele Hände, die sie flexibel einsetzen können. Deshalb ist die Teilzeitquote in dieser Branche so enorm. Gleichzeitig wird lautstark über Fachkräftemangel geklagt. Wer in dieser Situation den Beschäftigten den Wunsch nach mehr Stunden abschlägt, hat die Zeichen der Zeit noch nicht verstanden.“

„Teilzeit muss man sich ­leisten können.“
Regine Geraedts, Arbeitsmarkt-­Expertin der Arbeitnehmerkammer

Für 71 Prozent der Teilzeit­beschäftigten mit Kindern sind die fehlenden Betreuungsmöglichkeiten ein relevanter Grund, weshalb sie entgegen ihrem Wunsch ihre Stunden doch nicht aufstocken. Für ein gutes ­Drittel ist dies sogar das wichtigste Motiv. Betroffen sind vor allem Alleinerziehende: Drei Viertel von ihnen können aus ­diesem Grund nicht mehr Stunden bezahlt arbeiten.

Hohe Motivation für die Arbeit

Insgesamt, konstatiert Regine Geraedts, herrscht eine ausgesprochen hohe Motivation unter den Bremer Beschäftigten. Mit 81 Prozent identifiziert sich ein Großteil mit dem Job. Mehr als zwei Drittel sind zudem davon überzeugt, mit ihrer Arbeit einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag zu ­leisten. Allerdings mangelt es für viele an gesellschaftlicher Anerkennung. Besonders in Pflege- und Altenheimen sagen das rund 60 Prozent, und auch in Kranken­häusern und Arztpraxen wird mangelnde Wert­schätzung beklagt.

Die Behauptung, die Be­schäftigten hätten einfach keine Lust auf Arbeit, hält Geraedts für absurd. „Alle Befragten haben sehr gute Gründe für den Wunsch nach Teilzeit“, sagt die Expertin. „Es ist andersherum ein Skandal, dass Beschäftigte sich aus gesundheit­lichen Gründen in Teilzeit zurückziehen müssen. Dass viele sich das gar nicht leisten können, ist ein Hinweis auf zu schlechte Bezahlung.“ Unternehmen seien gut beraten, sich um die engagierten Arbeitskräfte zu bemühen, um sie zu halten, meint die Arbeitsmarkt-Expertin. Neben attraktiven Arbeitszeitmodellen sind der Schlüssel dazu gute Bezahlung sowie Entlastung und Kompensation von Stress und Arbeitsdruck.

Belastungen abbauen, Arbeitsbedingungen verbessern! AKB_Icon_Comment2

Kommentar von Peer ­Rosenthal, Hauptgeschäftsführer der Arbeitnehmerkammer Bremen

Die Beschäftigten werden älter. Die Babyboomer kommen in die Jahre, zugleich hat die Politik viele Wege zur Frühverrentung blockiert und das Renteneintrittsalter auf 67 erhöht. Das führt zu einem doppelten Effekt: Es sind mehr Ältere in den Betrieben und nach Lebensjahren arbeiten sie länger als je zuvor.

Arbeitgeber scheinen sich ­bisher zu wenig Gedanken darüber zu machen. Die Beschäftigtenbefragung zeigt: Zwei ­Fünftel der ab 55-Jährigen attestieren der Arbeit einen negativen Einfluss auf ihre Gesundheit, ein knappes Fünftel befürchtet, den Beruf nicht bis zum Renteneintritt ausüben zu können und deutlich mehr als ein Drittel würde die Arbeitszeit gern verkürzen – die meisten, weil die Arbeits­belastung zu hoch ist oder sie sich um ihre Gesundheit sorgen.

Es nützt deshalb nichts, über Fachkräftemangel zu klagen, um im gleichen Atemzug eine weitere Verlängerung der Lebensarbeitszeit zu fordern. Stattdessen gilt es Belastungen abzubauen, Arbeitsbedingungen zu verbessern und dafür zu sorgen, dass Ältere im Betrieb gesund und produktiv bleiben können und später in der Rente noch gute, gesunde Jahre vor sich haben.