Junge Frau sitzt am Schreibtisch und telefoniert

Mehr Bildung statt Warteschleifen

Jugendliche im Übergangssystem zwischen Schule und Beruf

Knapp 3.000 Jugendliche landen nach der Schule im Übergangssystem Schule-Beruf – sie sollten die Zeit gut nutzen können.

Text: Ulf Buschmann
Foto: Kay Michalak
1. Juli 2023

Murat (Name geändert) hat einen Berufswunsch: Der 17-Jährige möchte Dachdecker werden. Ein Praktikum hat er bereits absolviert, und die Chancen darauf, dass er die Mittlere Reife erreicht, die in Bremen ­Mittlerer Schulabschluss (MSA) heißt, scheinen gut zu stehen. Denn ohne MSA ist die Aussicht, den Wunsch-Ausbildungsplatz zu bekommen, für Murat gering. Doch dann das: Seine Schule eröffnet ihm, dass er nur die Erweiterte Berufsbildungsreife (EBBR), besser bekannt als erweiterter Hauptschulabschluss, bekommen werde.

„Jugendliche mit ­Hauptschulabschluss haben auf dem ­Ausbildungsmarkt im Land Bremen schlechte Chancen.“
Regine Geraedts, Referentin für Arbeitsmarktpolitik

Der 17-Jährige ist noch schulpflichtig und wechselt deshalb statt in eine Berufsausbildung ins Übergangssystem Schule-Beruf. Er verspricht sich davon, doch noch die Mittlere Reife zu schaffen und im nächsten Jahr eine Ausbildungsstelle zu bekommen. „Jugendliche mit Hauptschulabschluss haben auf dem Ausbildungsmarkt im Land Bremen schlechte Chancen. Fast 80 Prozent der neuen Ausbildungsverträge gehen hier zu etwa gleichen ­Teilen an junge Menschen mit Realschulabschluss oder Abitur“, sagt Regine Geraedts, Referentin für Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik der Arbeitnehmerkammer, zur Situation im Land Bremen. „Bei so einer Konkurrenz landet man mit einer Bewerbung mit Hauptschulabschluss ganz am Ende der Warteschlange und wird oft nicht mal zum Gespräch eingeladen.“

Das Übergangssystem bietet im Anschluss an die allgemeinbildende Schule Bildungsgänge an, die bei der Berufsorientierung helfen, auf eine Ausbildung vorbereiten oder die individuellen Kompetenzen der Jugendlichen verbessern sollen. Dazu zählt auch das Nachholen eines höheren allgemein­bildenden Schulabschlusses. Genau dafür will Murat seine Zeit nutzen.

Doch er muss schnell fest­stellen, wie kompliziert der Weg in das ­passende Angebot ist. Er holt sich deshalb Rat bei der Beratungsstelle „Ran an die Zukunft“ (RAZ) der Bremischen Evangelischen Kirche (BEK). RAZ ist eines der niedrigschwelligen Angebote in Bremen, das Murat schon aus dem Jugendfreizeitheim kennt, in dem er regelmäßig Zeit verbringt. Meike ­Mirgel, RAZ-Coach für Berufsorientierung, geht mit Jugendlichen und ­jungen Erwachsenen wie Murat alle Möglichkeiten durch.

„Wichtig ist, dass wir schauen: Wo stehen die Jugendlichen und wo wollen sie hin?“
Meike Mirgel, RAZ-Coach für Berufsorientierung

„Wichtig ist, dass wir schauen: Wo ­stehen die Jugendlichen und wo ­wollen sie hin?“, sagt Mirgel. Für Murat ist das klar. Seine Berufswahl steht fest und er möchte sich schulisch noch ver­bessern, in einigen Fächern weiter­kommen und sich am Ende mit dem MSA in der Tasche wieder bewerben. Um ­dieses Ziel zu erreichen, führt für ihn jedoch kein Weg an einem Gespräch bei der Zentralen Beratung Berufs­bildung (ZBB) vorbei. Diese ist Teil der Jugendberufsagentur Bremen.

Allerdings: So wie Murat sich das vorgestellt hat, läuft es nicht. Von der ZBB wird der 17-Jährige einer der sogenannten Praktikums­klassen an einer beruflichen Schule zuge­wiesen. Die Schülerinnen und ­Schüler der ­Praktikumsklassen ­sollen vor allem bei der Berufsorientierung unterstützt ­werden, indem sie ver­schiedene ­Praktika in Betrieben ab­­solvieren. Die Einfache Berufsbildungsreife ist Voraussetzung für den Zugang, der Erwerb eines höheren allgemeinbildenden Schul­­abschlusses ist aber nicht möglich. Schließlich sind die Jugend­lichen nur an zwei Tagen pro Woche in der Schule. Die übrigen drei Tage ver­bringen sie im Betrieb. Für Murat ist das eine Sackgasse. Er braucht keine Orien­tierung und will vor allem ­schulisch weiterkommen.

Das Land Bremen hat vor einigen ­Jahren seine Bildungsgänge im schulischen Übergangssystem reformiert. Ziel sollte es sein, mehr junge Menschen in eine Berufsausbildung zu bringen. Im Gegenzug wurden die Praktikums­klassen massiv ausgebaut: Allein von 2015 bis 2020 ist die Anzahl der Ab­­solventinnen und Absolventen laut der Senatorin für Kinder und Bildung von 71 auf 507 jährlich angestiegen. Die Möglichkeiten, vom Hauptschul- zum Realschulabschluss aufzusteigen, sind dagegen beschränkt worden.

„Insgesamt muss sich das Übergangssystem an die Bedarfe der ­Jugendlichen anpassen und nicht ­umgekehrt.“
Regine Geraedts, Referentin für Arbeitsmarktpolitik

Für die Arbeitnehmer­kammer ist das der falsche Weg, wie der Fall von Murat zeigt. Einerseits ­würden Arbeitgeber darüber klagen, dass das Schulsystem mit Bildungsdefi­ziten entlasse, andererseits gebe es junge Leute, die sich anstrengen und dazulernen wollen und sogar nach einem höheren Schulabschluss streben, sagt Geraedts: „Junge Menschen landen aus unterschied­lichen Gründen im Übergangssystem. Manchen fehlt nur der passende Schulabschluss, um bei Ausbildungsplatzmangel im Bewerbungswettrennen mithalten zu können, anderen fehlen noch grundlegende schulische Kompetenzen, um eine Ausbildung zu schaffen. Sie alle brauchen Bildung, manche zusätzlich auch Orientierung.“

Insgesamt müsse sich das Übergangssystem an die Bedarfe der Jugendlichen anpassen und nicht umgekehrt, meint die Expertin. Dies sei vor allem vor dem Hintergrund wichtig, dass eine große Anzahl Jugendlicher im Übergangssystem bei ihrer Orientierung, der Berufswahl und dem An­­bahnen eines Ausbildungsvertrags wenig Unterstützung von ihren Eltern erwarten können und bei einigen auch familiäre, gesundheitliche oder soziale Probleme hinzukommen.

Es verwundert nicht, dass gerade junge Leute wie Murat, die einen ­höheren Abschluss anstreben, die Praktikumsklassen eher gemischt beur­teilen. Das zeigt eine Untersuchung des Instituts Arbeit und Wirtschaft (iaw) der Universität Bremen aus dem Mai 2022. Das Forschungsinstitut hat ausführ­liche Interviews mit Jugend­lichen im schulischen Übergangs­system geführt und die Befragten zeigen sich oftmals enttäuscht, dass sie keine Chance auf schuli­sches Weiterkommen hatten. „Wir bieten vielen jungen Menschen die Möglichkeit, vom Realschullabschluss zum Abitur aufzusteigen. Das ist gut. Dass aber die­jenigen an eine gläserne Decke stoßen, die vom unteren zum mittleren Schulabschluss kommen ­wollen, wird den jungen Menschen nicht gerecht und erscheint in einer Bildungsgesellschaft absurd“, sagt Geraedts.