Erschöpfte Medizinerin

„Die Belastungen haben überall zugenommen“

Seit zehn Jahren müssen Unternehmen auch die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz erfassen. Zeit für eine Zwischenbilanz

Dr. Dennis Wernstedt, Arbeitnehmerkammer Bremen

Fragen: Jan Zier
Foto: Photocase

Februar 2024

Wie haben sich die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz in den letzten zehn Jahren verändert?

Dennis Wernstedt: Sie haben überall zugenommen! Ganz deutlich war das natürlich in der Corona-Pandemie zu spüren, als noch mal ganz andere, zusätzliche Belastungen am Arbeitsplatz entstanden sind. Das hat zu einer weiteren Verschärfung der Lage geführt – und es schlägt sich auch in den Arbeitsausfällen nieder: Die Krankenkassen veröffentlichen regelmäßig Zahlen, die zeigen, dass die Krankentage aufgrund psychischer Erkrankungen zunehmen. Sie sind mittlerweile zu einem der größten Faktoren für Arbeitsunfähigkeit und krankheitsbedingter Frühverrentung geworden.

Der Fachkräftemangel hat dazu geführt, dass Beschäftigte nun verstärkt in die Pflicht genommen werden, diesen Mangel durch vermehrte Leistung zu kompensieren: Sie müssen selbst in ihrer freien Zeit einspringen, die Arbeitsintensität und der Termindruck steigen allenthalben. Das ist natürlich mit einer Zunahme der psychischen Belastung verbunden. Sie beginnt nicht erst bei Erkrankungen wie Depressionen, die sind ja schon langfristige Folgen. Neben der Arbeitsverdichtung und dem Fachkräftemangel spielen aber auch neue Managementmethoden eine Rolle, die mit klaren Zielvorgaben und Wachstumserwartungen arbeiten und entsprechende Leistungsspiralen in Gang setzen. Gleichzeitig lässt sich ein gestiegenes Bewusstsein für die Auswirkungen von psychischen Fehlbelastungen feststellen. Das schlägt sich in einer erhöhten Akzeptanz psychischer Krankheitsursachen nieder, was sich auch in einer Zunahme der Krankschreibungen ausdrückt.   

Was kann da die „Gefährdungsbeurteilung Psyche“ da ausrichten?

Mit der systematischen Erhebung von möglichen Gefährdungen können zielgerichtete Maßnahmen abgeleitet werden, die Belastungen verringern und so auch psychischen Erkrankungen vorbeugen. Ganz prinzipiell ist es so, dass der Arbeitgeber dazu verpflichtet ist, sie zu machen – das betrifft alle Arbeitgeber, unabhängig von der Größe des Betriebs oder der Branche. Sie müssen physische, aber auch psychische Gefährdungsfaktoren erheben. Da geht es zunächst einmal um alles, was am Arbeitsplatz unmittelbar unser Denken und Fühlen beeinflusst.

Eine Erkrankung aufgrund schlechter Arbeitsgestaltung ist natürlich sehr schwer nachzuweisen, anders als ein Arbeitsunfall. Bei einem Burnout gibt es viele verschiedene Einflussfaktoren und nicht alle haben mit der Arbeit zu tun. Wenn von menschengerechter Gestaltung der Arbeit die Rede ist, war die Psyche zwar auch früher schon irgendwie immer mitgedacht. Aber die wenigsten Arbeitgeber haben eine solche Gefährdungsbeurteilung auch wirklich gemacht oder die psychischen Belastungsfaktoren adäquat berücksichtigt. Im Arbeitsschutzalltag hat sich das also noch nicht so wirklich etabliert. Das Jubiläum gibt uns jetzt die Gelegenheit, mal eine Bilanz zu ziehen, auch um daraus Handlungsschritte für die Zukunft abzuleiten.

Wie muss der Arbeitsschutz aussehen, um die Entwicklungen zu verbessern?

Es fehlt vor allem an Personal, das sich fachkundig darum kümmert. Dass eine Gefährdungsbeurteilung gemacht wurde, heißt ja noch nicht, dass sich etwas verändert. Von der Planung über die Maßnahmenentwicklung bis hin zur Wirksamkeitskontrolle vergeht oft viel Zeit – auch wenn Betriebe das mit viel Motivation angehen. Wie alle anderen Prozesse im Unternehmen auch muss man den Arbeitsschutz als einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess begreifen. Bei allen Änderungen im Arbeitsablauf müssen deshalb die psychischen Belastungen immer mitberücksichtigt werden. Nur wird das meist nicht richtig systematisch erhoben.

Was müssen die Arbeitgeber, was muss die Politik in Bremen für den Arbeitsschutz tun?

Gut ist, dass der Koalitionsvertrag in Bremen vorsieht, dass die Kontrollbehörden, darunter die Gewerbeaufsicht, personell aufgestockt werden sollen – es ist aber auch eine Selbstverständlichkeit. Damit Bremen die gesetzlich festgelegten Mindestquoten für Betriebsprüfungen bis 2026 einhalten kann, hätte hier schon früher mit Neueinstellungen begonnen werden müssen. Wir fordern seit Langem intensivere betriebliche Kontrollen ein: Mindestlohn-, Arbeitszeit- und Arbeitsschutzgesetze sind kein „Nice-to-have“, sondern Voraussetzung für menschenwürdige Arbeit. Was die fachliche Qualifikation der Aufsichtsbeamten angeht, hat sich in der Ausbildung schon viel getan. Sie kontrollieren auch die Dokumentationen von psychischen Gefährdungsbeurteilungen viel besser. Aber grundsätzlich sind die Aufsichtsbehörden immer noch ziemlich überlastet.

Wir brauchen aber auch einen gesellschaftlichen Bewusstseinswandel: Die Gestaltung der Arbeit muss sich an der tatsächlichen Leistungsfähigkeit der Beschäftigten ausrichten, an ihrer Gesundheit. Ein Euro, den man in den Arbeits- und Gesundheitsschutz investiert, zahlt sich am Ende mehrfach aus – dennoch vertreten viele Arbeitgeber den Standpunkt: Das kostet nur, bringt aber keine Einnahmen. Denn die Kosten für den Arbeitsschutz zahlen die Firmen, aber wenn ein Mitarbeiter krank wird, zahlt das die Krankenkasse. Bußgelder für eine nicht gemachte Gefährdungsbeurteilung könnten vielleicht helfen, aber auch verbindlichere Vorgaben im Bereich der technischen Regeln.

Vorträge & Diskussion zum Thema AKB003_IconInfo

Am Mittwoch, den 28. Februar 2024 lädt die Arbeitnehmerkammer Bremen von 13:45 bis 18 Uhr in den Kultursaal:

 

10 Jahre Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen - eine Standortbestimmung 

 

Den runden Jahrestag wollen wir zum Anlass nehmen, um mit Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis eine Zwischenbilanz zu ziehen, mit der wir handlungsorientiert nach vorne blicken wollen - mit Vorträgen von David Beck (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin), Dennis Wernstedt (Arbeitnehmerkammer Bremen), Stefani Mehring (Technologieberatungsstelle NRW) und Katrin Willnecker (ver.di-Bundesverwaltung, Referat Arbeits- und Gesundheitsschutz).