Um das von der EU vorgegebene Ziel von 60 Prozent des mittleren Einkommens zu erreichen, hätte der Mindestlohn schon 2023 bei etwa 13,50 Euro liegen müssen, im diesem Jahr noch einmal 75 Cent höher. Und natürlich gilt: Ein Mindestlohn ist immer nur die untere Schwelle des gerade noch Erträglichen, kein Gütesiegel! Für wirklich gute Löhne müssen wir dringend die Tarifbindung stärken, die im Land Bremen zwar etwas über dem bundesweiten Durchschnitt liegt, mit 56 Prozent aber auch hier viel zu niedrig ist.
Warum kursieren so viele unterschiedliche Zahlen in der Debatte um den Lohnabstand?
Das System von Abgaben und Sozialleistungen ist sehr kompliziert, und durch die unterschiedlichen Wohnkosten in den Kommunen bekommt man für Modellrechnungen von Ort zu Ort verschiedene Ergebnisse. Diese Berechnungen hängen dann natürlich auch davon ab, was man genau zugrunde legt – welche Wochenarbeitszeit, welche Familienkonstellation, welche Wohnungsgröße und so weiter. Und weil sich die meisten Werte im Sozialrecht regelmäßig ändern, ist das, was im November 2023 noch stimmte, im Januar 2024 schon wieder veraltet. Außerdem ist es wichtig, dass auch wirklich alle Posten – zum Beispiel auch der Kinderzuschlag – berücksichtigt werden, weil man sonst Äpfel mit Birnen vergleicht. Was gar nicht geht, aber teilweise trotzdem gemacht wird, ist ein Vergleich des vollen Bürgergeldes für eine Familie mit dem bloßen Nettolohn eines Alleinverdieners. Mit solch schiefen Rechnungen kommt man dann schnell zum Fehlschluss, dass sich Arbeit nicht lohnt, obwohl das mit der Realität nichts zu tun hat.
Was muss sich aus Sicht der Arbeitnehmerkammer konkret ändern?
Damit die Debatte wieder vom Kopf auf die Füße gestellt wird, brauchen wir zunächst deutlich angemessenere Löhne. Dann müssen wir sicherstellen, dass die Sozialleistungen nicht weiter viel zu niedrig sind. Das gilt nicht nur für die Regelsätze für Erwachsene, sondern auch für die geplante Kindergrundsicherung, die nach derzeitigem Stand deutlich niedriger ausfallen wird als notwendig. Aber, und das ist ein weiterer wichtiger Punkt: Maßnahmen wie eine Kindergrundsicherung können, wenn sie gut gemacht sind, zumindest dazu dienen, das Gesamtsystem zu verschlanken und zugänglicher zu machen. Es gibt aktuell einfach ein ziemliches Nebenher von Leistungen, das kaum noch jemand versteht. Ansprüche werden deshalb oft gar nicht geltend gemacht, und selbst dann kann es je nach Konstellation absurderweise sogar dazu kommen, dass sich ein etwas höherer Lohn netto gar nicht wirklich bemerkbar macht. Gegenüber der Nichtarbeit lohnt sich Beschäftigung sehr, aber bei Mehrarbeit ist das nicht immer ganz so klar. Das muss der Gesetzgeber angehen, und die Ampelkoalition hat sich das ja auch vorgenommen.