Außenansicht der Agentur für Arbeit, davor unschard eine Familie mit 2 Kindern und Kinderwagen. Im Vordergrund liegen Euromünzen.

Geld vom Staat - warum Menschen Bürgergeld beziehen

Lohnt sich Arbeit noch?

Seit der Erhöhung des Regelsatzes zum ­Jahreswechsel wird verstärkt darüber diskutiert, ob sich Arbeit noch lohnt. Wir haben uns angeschaut, warum Menschen in Bremen ­Bürgergeld beziehen.

Text: Anna Zacharias
Fotos: Jonas Ginter
1. März 2024

Warum noch ­arbeiten gehen? Nicht erst seit der jüngsten Bürgergeld-­Anpassung zum Jahreswechsel wurden die ­Stimmen laut, Erwerbstätigkeit lohne sich für viele nicht mehr. Die Versuchung sei zu groß, einfach zu Hause zu bleiben. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil brachte härtere Sanktio­nen für diejenigen auf den Weg, die ein zumutbares Jobangebot ablehnen. Aber wie kommt es eigentlich dazu, dass ­Menschen im Bürgergeld stecken bleiben? Fakt ist: Nur ein Drittel der Leistungsberechtigten im Land Bremen steht dem Arbeitsmarkt überhaupt voll zur Verfügung.

Die meisten Menschen wollen ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen, davon ist Thorsten Spinn, Geschäfts­führer des Bremer Jobcenters, jedenfalls überzeugt. „Es gibt immer ein paar, die arbeiten könnten, aber allein auf Bürgergeld setzen – vielleicht noch in Kombination mit Schwarzarbeit. In der Stadt Bremen bewegen wir uns da im niedrigen einstelligen Prozent­bereich“, sagt er.

„Die meisten Menschen wollen ihren ­eigenen Lebensunterhalt verdienen.“
Thorsten Spinn, Geschäftsführer des Bremer Jobcenters

„Alle, die mit der Arbeit der Jobcenter oder kommunalen Träger vertraut sind, in denen das Bürgergeld ausgezahlt wird, wissen: Es ist kein bedingungsloses Grundein­kommen“, sagt Alexandra Krause, Arbeitsmarkt-Expertin der Arbeitnehmer­kammer Bremen. Der Gesetzgeber nehme die Empfängerinnen und Empfänger in die Pflicht, alles dafür zu tun, ihren Lebensunterhalt wieder selbst bestreiten zu ­können. Dafür gebe es auch eine Fülle an Maßnahmen, die die Menschen ­wieder in Arbeit bringen sollen. „Die Vorstellung, immer mehr Menschen ­würden den Bürgergeld­bezug freiwillig als Lebensperspektive wählen, ist zynisch“, meint Krause.

„Ein erheblicher Anteil steht dem Arbeitsmarkt aus guten Gründen nicht zur ­Verfügung – etwa krankheitsbedingt oder weil sie Angehörige und ­Kinder versorgen müssen.“
Alexandra Krause, Arbeitsmarkt-­Expertin der Arbeitnehmerkammer

Zahlen sprechen für sich

Die Zahlen, die das Bremer Jobcenter dazu bereithält, sind eindeutig: Von rund 54.000 Leistungsbeziehenden in der Stadt Bremen wurden im Monat September 2023 insgesamt 238 Menschen sanktioniert. Die meisten, weil sie nicht zu vom Jobcenter gesetzten Terminen erschienen. Nur bei 23 ging es um zumutbare abgelehnte Jobs. Das wäre auch die maximal mögliche Gruppe derer, die von den diskutierten Komplettkürzungen von Leistungen betroffen wären.

„Aus meiner Sicht sollte das Existenzminimum nicht angefasst ­werden. Wovon sollen die Menschen denn leben? Ich halte es eher für wahrscheinlich, dass viele dann die Miete nicht zahlen, um sich Lebensmittel zu kaufen“, sagt Thorsten Spinn. Und man müsse sich auch fragen, ob der­artiger Druck die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem Jobcenter erhöhen würde.

Großer Anteil steht gar nicht zur Verfügung

Arbeitslos ist nicht gleich arbeit­suchend: Zum Oktober 2023 gab es im Land Bremen gut 96.000 Menschen mit Bürgergeld-Anspruch, die in 49.200 Bedarfsgemeinschaften lebten –
Kinder und Rentnerinnen und Rentner mitgezählt. Davon waren gut 67.400 grundsätzlich erwerbsfähig, von ihnen standen allerdings nur rund 29.300 zu diesem Zeitpunkt dem Arbeitsmarkt zur Ver­fügung.

„Ein erheblicher Anteil derjenigen, die Bürgergeld beziehen und im erwerbsfähigen Alter sind, steht dem Arbeitsmarkt aus guten ­Gründen nicht zur Verfügung – etwa krankheitsbedingt oder weil sie Angehörige und Kinder ver­sorgen müssen“, erklärt Alexandra Krause. Thorsten Spinn wehrt sich gegen die Behauptung, mit der Inflations­anpassung des Bürgergeldes könnten viele einfach ihren Job hinschmeißen: „Das Risiko würde ich ausschließen, dafür sehen wir überhaupt keine Anzeichen.“ Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist seit 2014 nicht maßgeblich gestiegen: im Jahresdurchschnitt waren 2014 rund 16.160, 2023 mit 16.030 sogar geringfügig weniger.

Wenn Bildungslücken im Weg stehen

Das Geld vom Staat, das Medina K.* bezieht, hatte schon viele Namen. Zurzeit nennt es sich Bürgergeld. Medina K. ist Aufstockerin. Die 51-jährige Kosovo-­Albanerin kam 1982 zum ersten Mal nach Deutschland, seit 1990 lebt sie ganz hier. „Als ich herkam, haben mir das Jobcenter und die Arbeitsagentur meine Schule nicht weiterbezahlt. Das wurde trotz meines vielfachen Widerspruchs abgelehnt – ich sei schon zu alt. Und meine Schulzeit aus der ­Heimat wurde nicht anerkannt“, erzählt sie in nahezu akzentfreiem Deutsch. Sie startete also mit einigen Hürden in den deutschen Arbeitsmarkt.

Trotzdem arbeitete sie zuerst, bis ihre Ehe in die Brüche ging: „Dann musste ich mich als Alleinerziehende um meine Kinder kümmern“, erzählt sie. Finanzielle Unterstützung bekam sie von ihrem Ex-Mann kaum. Nachdem sie wegen der Trennung ad hoc ihren Job kündigen musste, hatte sie die ersten sechs Monate gar kein Geld, konnte nicht mal die Miete zahlen, erzählt sie. Neben dem Geld vom Staat habe K. auch immer gearbeitet, unter anderem im Bereich Pflege. „Ich würde beruflich gern mehr machen, aber für vieles fehlt mir einfach die Qualifikation auf dem Papier.“

Qualifizierung ist aus der Sicht von Thorsten Spinn das entscheidende Instrument, um Menschen in Arbeit zu bringen. „Das ist aber ein Schritt nach vielen anderen. Zuerst müssen wir viele Betroffene stabilisieren in ihrer Lebenssituation, ihrer Wohnsituation, eine Tagesstruktur etablieren und sie müssen Vertrauen in sich selbst ent­wickeln“, erklärt er. Den größten Handlungsbedarf gibt es aus seiner Sicht bei der Gruppe der Mütter – „schon aufgrund der fehlenden Angebote zur Kinder­betreuung“.

Der Berater Tjark Osterloh von der agab sitzt frontal in einem Beratungsgespräch.

Tjark Osterloh, Berater bei der agab

„Die meisten Ratsuchenden kommen zu uns, weil sie einfach überfragt sind.“

 

Der Geschäftsführer des Bremer Jobcenters Thorsten Spinn steht am Schreibtisch und schaut in die Kamera.

Thorsten Spinn, Geschäftsführer des Bremer Jobcenters

„Die meisten Menschen wollen ihren ­eigenen Lebensunterhalt verdienen.“

Verwirrende Bürokratie

Juristin Stephanie Richter hat in der öffentlichen Rechtsberatung der Arbeitnehmerkammer oft mit dem Bürgergeld zu tun. „Es kommen viele sogenannte Aufstocker zu uns, weil sie zum Beispiel in einem Monat mehr verdient haben als erwartet und dann sechs Monate später eine Aufforderung zur Rückzahlung bekommen, die sie nicht nachvollziehen können“, sagt Richter.

Aus ihrer Erfahrung in der Beratung kann sie sagen: „In der Regel ­wollen die Menschen arbeiten und sich ihren Lebensunterhalt selbst ver­dienen. Die Rennerei zu den Ämtern und die Papierschlachten würden sich die ­meisten gern ersparen.“

Oft sind es auch Problem in der Kommunikation mit dem Jobcenter: „­Häufig sind es Menschen, die nicht wissen, dass sie beispielsweise für eine längere Ortsabwesenheit die Zustimmung des Jobcenters einholen oder eine neue Arbeitsstelle unverzüglich ­melden müssen und bestimmte Dokumente hätten einreichen müssen“, sagt sie. Sanktionen hält sie nur sehr bedingt für sinnvoll. „Wenn Leistungen ganz gestrichen werden, wird der Begriff Existenzminimum ad absurdum geführt“, sagt die Rechtsberaterin über den Regelsatz von aktuell 563 Euro.

Mehr geflüchtete Menschen

Die Zahl der Ausländerinnen und Ausländer unter den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten ist im Land Bremen seit 2014 maßgeblich gestiegen, von rund 20.200 auf gut 34.300 im ­Oktober 2023, berichtet Alexandra Krause. Bei Menschen mit Fluchtgeschichte gibt es bei der Jobsuche spezielle Herausforderungen. Bis die nötigen Sprachkenntnisse erworben seien, dauere es oft: „Deutsch ist eine schwierige ­Sprache und es gibt nicht genug Angebote“, sagt Thorsten Spinn. Berufsabschlüsse aus dem Ausland würden häufig erst nach mehr als einem Jahr anerkannt und seien oft gar nicht kompatibel mit dem Arbeitsmarkt. „Als Jurist beispielsweise kann ich hier auf gar keinen Fall arbeiten, und dann werden Menschen mit hoher Qualifikation Helferstellen vermittelt“, so Spinn. Das System der betrieblichen Ausbildung gebe es in vielen Ländern gar nicht. Hinzu kämen oft Traumatisierungen aus Kriegsgebieten, was oft vergessen werde.

„Ich würde beruflich gern mehr machen, aber für ­vieles fehlt mir einfach die ­Qualifikation auf dem Papier.“
Medina K., Bremer Langzeitarbeitslose

Viele sind überfordert

Die Anforderungen des Jobcenters seien nicht nur aufgrund sprachlicher Hindernisse für viele Betroffene sehr schwierig, sagt Medina K.: „Ich kenne viele Menschen, denen es wirklich schlecht geht und die einfach komplett überfordert sind. Und die auch regelrecht Angst haben vor dem Besuch im Jobcenter.“

Der Sozialjurist Tjark Osterloh ist seit zwei Jahren Berater bei der ­Bremer Aktionsgemeinschaft Arbeits­loser Bür­­ger­­innen und Bürger (agab). Die Anlaufstelle verbucht rund 3.500 Be­­ratungen im Jahr, die meisten Menschen haben Fragen zu Jobcenter und Bürgergeld, aber auch Wohngeld und Kinderzuschlag sind Themen. „Die meisten Ratsuchenden kommen zu uns, weil sie einfach überfragt sind“, sagt Osterloh.

Der Anteil der Menschen ohne deutschen Pass in seiner Beratung sei deutlich höher als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung. „Viele eingereiste Menschen müssen sich nach Ankunft oder auch nach längerem Aufenthalt in Deutschland zunächst um aufenthaltsrechtliche Belange, Sprachkurse, ­Familie, Ausbildung und Sonstiges kümmern und sind in dieser Zeit auf sozialstaatliche Unterstützung angewiesen. Hinzu kommt, dass etwa für EU-Bürger oder für Menschen aus sogenannten Drittstaaten zum Teil ungleich schärfere Bedingungen gelten, wenn es um Sozial­leistungen geht.“

Von Leistungsminderungen be­­troffen sind die wenigsten in der Beratung der agab. „Angesichts der Gesamtzahlen der Sanktionen der vergangenen Jahre darf man durchaus behaupten, dass deren Wiedereinführung für sogenannte Totalverweigerer zum Einsparen beim Bundeshaushalt Symbolpolitik ist“, meint er.

„Für die Menschen, die ­grundsätzlich ­arbeiten ­können, ­stellen ­häufig ein ­fehlender ­Berufsabschluss, die ­Bürokratie der ­Arbeitsförderung und vielleicht auch die ­fehlende ­Bereitschaft von Unternehmen, ihnen eine Chance zu geben, ­wirkliche ­Herausforderungen dar. Das sind die ­wichtigen ­Stellschrauben – nicht die Debatte um die ­verschärfte Sanktionierung einer kleinen Minderheit.“
Alexandra Krause, Arbeitsmarkt-­Expertin der Arbeitnehmerkammer

„Für die Menschen, die grundsätzlich arbeiten können, ­stellen häufig ein fehlender Berufsabschluss, die Bürokratie der Arbeitsförderung und vielleicht auch die fehlende Bereitschaft von Unternehmen, ihnen eine Chance zu geben, wirkliche Herausforderungen dar“, stellt Alexandra Krause klar. Das seien die wichtigen Stellschrauben – nicht die Debatte um die verschärfte Sanktionierung einer kleinen Minderheit.

Dauerhaft nur vom Bürgergeld leben, geht das? Medina K. verzieht den Mund. „Ich wollte heute Morgen mal wieder zum Bäcker, weil ich das so lange nicht gemacht habe. Sechs Euro sollte ich für meine Tüte Brötchen bezahlen. Ich war regelrecht schockiert.“

Kommentar von Peer Rosenthal, Hauptgeschäftsführer der Arbeitnehmerkammer Bremen AKB_Icon_Comment2

Arbeit lohnt sich!

Die aktuellen Diskussionen um das Thema Bürgergeld kreisen um die Frage, ob sich Arbeit überhaupt noch lohnt. Berechnungen der Arbeitnehmerkammer aber auch anderer wissenschaftlicher ­Institute geben eine eindeutige Antwort: ja. Und Arbeit lohnt sich nicht nur finanziell. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Teilhabe, Integration und Aner­kennung in großen Teilen über Erwerbs­arbeit ­funktionieren.

Daher sollte sich die Debatte um das Bürgergeld jetzt wieder mit der wirklich wichtigen Frage beschäftigen: Wie sehen Wege in nachhaltige Beschäftigung aus? Mit dem Bürgergeld sind die Voraussetzungen dafür besser als in der Vergangenheit: Der Fördergedanke wird wichtiger und die Weiterbildung gestärkt – auch bis zum Berufsabschluss. Dafür steht auch die Einführung des Weiter­bildungsgeldes. Diese mit der Reform verbundenen Chancen müssen jetzt genutzt werden, um Fördertreppen zu bauen und individuell zu unterstützen, wo es nötig ist.